Christus am Ölberg, Meister von St. Severin,
um 1500, München Alte Pinakothek

GEDANKEN

Jesus nachgefragt.
Ist der historische Jesus greifbar?

von Mag. Jakob Sint

Am Anfang steht der Mythos: ein einzelner Mensch über dessen Leben wir fast nichts wissen, und wenn, dann nur von einem Zeitraum von wenigen Jahren (Predigttätigkeit 1/2 bis 3 Jahre) ist 2000 Jahre später noch immer ein Thema, obwohl er selbst nichts Schriftliches hinterlassen hat, nur umher gewandert ist, einfachen Leuten einfache Dinge erzählt hat, einigen von ihnen gesundheitlich geholfen hat und für all dies ziemlich bald umgebracht wurde, weil er nicht der gesellschaftlichen Norm entsprach. Auf die Geschichte der Menschheit gesehen unmöglich ein Einzelfall, sondern einer unter Tausenden.

Warum also blieb gerade dieser Mensch im Gedächtnis?
Gehen wir von den Jesusbildern der christlichen Tradition aus: biblischen Darstellungen wie etwa dem guten Hirten, über die orthodoxe Darstellung des Panthokrator (kosmischer Weltenherrscher), die verklärt lieblichen Bilder der Herz-Jesu-Frömigkeit, bis hin zum „brüderlichen Kumpel“ zeitgenössischer Jugendgruppen

Das sind aber Bilder der Frömmigkeitsgeschichte. So wie die Evangelien selbst wollen sie gar nicht darauf abzielen diesen Jesus genau zu beschreiben. Sie sind ein Spiegel der Glaubensbeziehung der Menschen selbst, und dadurch wechseln sie durch die Menschheitsgeschichte hindurch ständig. Wollen wir nach der Wirklichkeit Jesu fragen, dürfen wir uns daher auf sie alleine nicht verlassen, und schon gar nicht von ihnen ausgehend nach der Wirklichkeit fragen.

Die Frage nach dem historischen Jesus bleibt aber andererseits im Ansatz stecken. Das liegt vor allem daran, dass die  Hauptquelle über sein Leben, die Evangelien, keine Biographie sein wollen. Rein biographisch würden sie auch nicht viel hergeben - Geburt, Kindheitsgeschichte weitestgehend im Dunkeln. Dadurch ergibt sich objektiv ein wenig befriedigendes Bild:

Jesus hat wenig von der Welt gesehen, kam nie über seine Heimat hinaus. Politik und Wirtschaft bleiben ihm fremd. Seine Botschaft ist keine hervorragende Arbeit auf dem Gebiet des Geistes, und Philosophie hat ihm nicht viel bedeutet. Immerhin lebten vor ihm Leute wie: Sokrates, Platon, Sophokles, Euripides, (um nur die zu nennen die im damaligen Israel tradiert wurden!) Jesus ist in Wortschatz und Wortgestaltung sehr bescheiden (aus welchem Grund auch immer) Jesus war nicht an Werken der Kultur interessiert, Jesus war nicht an kosmischer Harmonie und Einklang mit der natur interessiert. Sein Reden und Handeln zielt auf die Gegenwart, der menschlichen Sorge um Zukunft gegenüber bleibt er gleichgültig ("Was sorgt ihr euch..."). Jesus ist kein Beispielgeber für konkrete Lebensfälle.

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter etwa bietet wohl eine Anleitung zu caritativem Tun: Von den drei Personen identifiziert sich Jesus mit dem sanften Samariter. Aber wäre der/die Betreffende 15 Minuten früher eingetroffen, und hätte die Räuber noch vorgefunden, wäre dann nicht Handlungsbedarf angesichts der Gewalt angesagt gewesen?

Jesus spricht zwar von Feindesliebe, aber zeigt er auch wie das geht, sei es seelisch, praktisch, oder im sozialen Verhalten?

Es bedarf meiner Meinung nach einer weiteren Provokation um diesem Jesus "auf die Schliche" zu kommen: Es gibt keine schriftlichen Quellen von Jesus selbst, aber sehr wohl einige Freunde die mit ihm mitgingen. Die nächsten Generationen berichten über ihn, Jahrhunderte von Kirchenvätern, christlichen Philosophen folgen, im 20. Jahrhundert folgt als vorläufiger Höhepunkt mit dem Weltkatechismus ein 815 Seiten starkes Kompendium an dem unzählige Menschen mitgearbeitet haben. Die flüchtige, lose Form in der Jesus seine „Erneuerungsbewegung“ führte, erscheint aus diesem Blickwinkel als krasser Gegensatz zu einem endgültig definierten Klerus dessen Fundament ewige Geltung haben soll.

Die Frage „Wer war dieser eigenartige Mensch?“ brennt nun auf den Lippen, und sie kann sich gar nicht in der Frage nach dem historischen Hintergrund erschöpfen. Die Verfasser der Evangelien sind sich dessen bewusst und versuchen es erst gar nicht.

Die Versuche die Lücken der Evangelisten im Laufe der Frömmigkeitsgeschichte zu füllen mussten zwangsläufig scheitern. Bsp: Die Fehlende Kindheitsgeschichte wurde mit idyllisch strahlender Harmonie der heiligen Familie gefüllt, das gleichzeitig zum moralischen Zeigefinger für normalsterbliche Familien wurde – oder besser gesagt für die betreffenden Frauen und Kinder.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen hier darum, abseits von erstarrten Bilden, drei wesentliche Merkmale der Person Jesu beleuchtet werden, die der Wirklichkeit des Zimmermanns aus Nazareth sehr nahe kommen können.

Tatsächlich war Jesus von Anfang an ein eigenartiges Kind und ein Einzelgänger. Zwar heißt es, er war seinen Eltern gehorsam, was aber nur bedeutet, dass er nicht aufsässig war.

Doch absentiert er sich als 12 jähriger absichtlich von seiner Familie um im Tempel zu bleiben, und knappe 20 Jahre später auf der Hochzeit zu Kana hat sich an diesem Wesen nichts wesentlich geändert. Seiner Mutter und seinen Geschwistern die vor der Türe warten und ihn heraus bitten, lässt er ausrichten, seine Familie wären die, die den Willen des Vaters täten. Dies ist gar nicht als gemeine Abfuhr gedacht, sondern Jesu feste Überzeugung aus seiner Gottesbeziehung heraus.

Auch das Bedürfnis sich zurückzuziehen – sei es in die Wüste, sei es um Abstand von vielen Menschen zu bekommen (Erzählung der Brotvermehrung) bleibt ihm Zeit seines irdischen Daseins. Fast scheint es, als wäre das Sich-Zurückziehen für Jesus ein Garant, sich von der Gesellschaft nicht vereinnahmen zu lassen, und so einfach zu bleiben wie er ist. Immer kommen die Leute aus der Stadt zu ihm heraus ins offene Land, seine Tätigkeit spielt sich „draußen“ ab, außerhalb der städtischen Zivilisation die seit Kain für die Sünde steht.

Erst der Einzug in Jerusalem bringt ihn in die Gesellschaft zurück und besiegelt damit gleichzeitig sein Schicksal.

Hier liegt meiner Meinung nach ein erster Schlüssel für das Geheimnis der Faszination: Die menschliche Gesellschaft liebte es immer schon kompliziert, weil die Wahrheit unzumutbar ist. „Wo kämen wir dahin...?“, ist eine stehende Redewendung. Um zu sehen wohin wir kämen müsste jedoch jemand Ernst machen und wirklich gehen. Jesus tritt nicht einmal auf und sagt: „ich gehe jetzt, und wir werden schon sehen“, sondern geht einfach. Die ersten 30 Jahre seines Lebens tut er dies überhaupt völlig unbemerkt, aber er geht seinen Weg, und hat das Vertrauen, dass andere mitgehen wenn er es ihnen anbietet!

Jesus stellt keine Maximen auf. Er will gar nicht den Anspruch erheben für alles eine Patentlösung zu haben. Darin unterscheidet er sich ja auch von seinen Kollegen im Pharisäer-Amt, die gerade deswegen so ein passives Problem mit ihm haben: Jesus ist einfach niemand „Besserer“. Er ist einer wie alle anderen. Aber er versteckt sich nicht hinter einer scheinbaren menschlichen Unfähigkeit, sondern tut, und tritt damit diskussionslos und selbstverständlich den Gegenbeweis an. Machthabern einer komplizierten Gesellschaft muss das ein Dorn im Auge sein.

Hier liegt der zweite Schlüssel: „Einer von uns“. Einfacher geht es nicht. Der fehlende Wunsch besser zu sein lässt Jesus ohne Vorbehalte auf die Menschen zu gehen. Und so sehr er die Gesellschaft scheut, so sehr nimmt er sich einzelner Schicksale an. Nächstenliebe funktioniert schließlich auch nur konkret, nie abstrakt.

Was dies betrifft, macht Jesus Ernst damit, dass es leicht ist, Gottes Gebote zu befolgen, und dass sie aufs Herz geschrieben sind (Dtn 30).

Er rückt damit seine Person in den Hintergrund, und die Evangelisten sind klug (bzw. inspiriert) genug dies zu verstehen. Sie protokollieren nicht wer Jesus war, sondern was er für die nach ihm Lebenden bedeutet.

Die Einfachheit und Bescheidenheit Jesu schiebt jedem Elitedenken einen Riegel vor, nach welchem es spezieller Erwählung bedürfte damit das Wort Gottes ankommen kann.

Das Bild dieses Menschen wird immer eigenartiger
Auf die Frage „Wer war dieser eigenartige Mensch?“ kann es für mich nur die Antwort geben: „Einer der Ernst gemacht hat mit dem Wort Gottes, der es sich nicht einfach gemacht hat, aber einfach gehandelt hat, der die Gesellschaft gescheut, aber auf die Menschen zugegangen ist.

Einer, der es Gott gleichgemacht die Menschen anzunehmen wie sie sind, und jedem in gleicher Liebe gegenüber zu treten. Und vor allem: einer der bereit war diesem Weg treu zu bleiben und auch mit dem Leben zu bezahlen – mit dem vertrauen das Gott das letzte Wort hat.

Gerade dieses einfache Gottvertrauen ist ansteckend. Die Menschen die Jesus erlebten wurden von diesem Vertrauen in den Bann gezogen. Dass Jesus von der jungen Kirche Messias erkannt und als Mensch gewordenes Wort Gottes verehrt wurde nahm hier seinen Ausgang. Die Tragweite des Lebens Jesu zeigte sich immer deutlicher je weiter sich sein Wort verbreitete und Wirkung zeigte.

In dieser Gottesbeziehung liegt der letzte und wesentlichste Schlüssel im Zugang zur Person Jesus:

Die Menschen erlebten diesen Jesus so eng mit seinem Gott verbunden, dass er von ihm letztlich nicht mehr trennbar, ja nicht mehr zu unterscheiden war. Der Titel „Sohn Gottes“ wurde zu mehr als dem ursprünglichen Ehrentitel, er wurde als Gott verstanden und verehrt.

Das Verständnis der Gottheit Jesu kann aber letztlich nur aus dem Glauben verstanden werden, nie aus der historischen Rückfrage.

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